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Pressestimmen:
taz 4.6.09: Von einem Strauch mit roten Beeren essen
Jan Krügers "Rückenwind" ist ein radikal offener Film. Was Halluzination ist, was Wirklichkeit, bleibt in der Schwebe
Zwei junge Männer brechen auf, sie nehmen die Räder, sie fahren mit dem Zug, sie steigen aus irgendwo in Brandenburg, sie fahren los, ohne Ziel. Johann (Sebastian Schlecht) und Robin (Eric Golub) heißen sie. Es regnet, es kommt zum Streit, weil Robin die Zeltstangen nicht mitgenommen hat. Er lacht frech, er nimmt die Vorwürfe von Johann nicht ernst, sie legen sich ins Zelt, das, flach auf dem Boden, nicht mehr ist als eine immerhin wasserabweisende Decke. Im Dunkeln dann eine Verfolgungsjagd wie ein Traum, Bewegung durchs Unterholz im flackernden Licht der Taschenlampen, sie wollen einander wie verspielte Tiere, dann ein Sturz, Johann wird ohnmächtig, als er erwacht, ist er gefesselt, die beiden haben Sex im Wald in der Dunkelheit.
Die schönste Szene des Films: Mit sehr langer Brennweite ist ein Fahrradwettrennen der beiden auf einem Stück Teer mitten in der Landschaft ins Bild gesetzt. Riesengroß diese Straße, womöglich auch eine ehemalige Flugzeug-Landebahn - winzig klein ganz weit hinten die beiden. Erst nur das Flirren und Flimmern von Wärme und Licht, frontal steht die Kamera, kaum erkennt man Johann und Robin. Sie stürmen heran, aber zunächst schluckt die statische Einstellung beinahe vollständig Physis und Tempo. Als sie nahe sind, gibt die Kamera ihre Ruheposition auf und fängt die Bewegung, den Schweiß, die Erschöpfung der Männer mit großer Aufmerksamkeit, ja, sogar Zärtlichkeit ein. Das Spiel der beiden, ein Hin und Her zwischen Annäherung und Abstoßung, spielt die Kamera der herausragenden Kamerafrau Bernadette Paassen ganz bewusst mit: Sie wartet, zögert, sie lauert, sie weist zurück, sie empfängt mit offenen Armen und manchmal liebkost sie auch Haut und Haar.
"Rückenwind" ist ein radikal offener Film. Er will und geht ins Freie hinaus und er nimmt sich zugleich die Freiheit, was er auf die eine Weise begonnen hat, auf andere Weise fortzusetzen. Seine Fortbewegungsform, sein Erzählen ist aufs Schönste erratisch. Plötzlich nämlich sind dann die Fahrräder weg, gestohlen vielleicht, jedenfalls: weg, und mit ihnen Proviant, Karten, der letzte Rest der Verbindung zu Alltag und Zivilisation. So ist die Uckermark unversehens so was wie der Sherwood Forest. Die Liebenden werden zu Wegelagerern und überfallen ein älteres Radlerpaar und nehmen ihm den Proviant ab. Immer wieder kommt es in der Geschichte zu seltsamen Einlagerungen wie dieser, zu Verschiebungen, Interferenzen, Überschreitungen des einfachen realistischen Modus.
So erzählt "Rückenwind" erst einmal von einer ganz normalen Radeltour. Es wird geschwommen in brandenburgischen Seen und herumgelegen an ihren Ufern. Zugleich aber ist der Film auch das Märchen von zweien, die ausziehen, das Lieben und Fiebern und Fürchten zu lernen. In einer weiteren Wendung gelangen sie auf einen Bauernhof, dort lebt eine Mutter mit ihrem 16-jährigen Sohn. Grit (Iris Minich) und Henri (Denis Alevi) heißen sie. Am Feuer erzählt Grit die Geschichte des Nathan von Witzlow, eine Geschichte, wie Kleist sie erzählt haben könnte, von einem jungen Mann, einem fanatischen Jäger, der eines Tages einfach verschwindet, für tot gilt, bis man seltsame Opfergaben erjagter Tiere vor brandenburgischen Häusern findet.
Das erzählt Krüger zunächst einfach hinein in seine Geschichte, die dann aber von der Legende des Nathan von Witzlow wie infiziert erscheint. "Rückenwind" verwandelt sich, ganz und gar vielleicht, in einen Fiebertraum: Johann isst von einem Strauch mit dunklen Beeren und beginnt zu halluzinieren. Was folgt, ist Halluzination oder Wirklichkeit oder beides. Genau kann man das nicht wissen, genau will man es auch nicht wissen. Schade nur, dass man am Ende herausgerissen wird aus diesem Zwischenzustand. Der Film kehrt in eine Rahmenerzählung zurück, die freilich das einzig Überflüssige an ihm ist.
EKKEHARD KNÖRER
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Süddeutsche Zeitung, 4.6.09: Im Wald verlaufen
Ein Akt der Liebe - Jan Krügers "Rückenwind"
"Der Film von morgen wird noch persönlicher sein als ein autobiographischer Roman, wie ein Bekenntnis oder Tagebuch. Die jungen Filmemacher werden sich in der ersten Person ausdrücken und schildern, was ihnen widerfahren ist: die Geschichte ihrer neuesten Liebe, ihr politisches Erwachen, eine Krankheit, ihre letzten Ferien. Der Film von morgen wird ein Akt der Liebe sein!" So formulierte François Truffaut die Programmatik der Nouvelle Vague, "Rückenwind" ist ein mit geringstem Budget gedrehter Film, der es wagt, so persönlich und bekenntnishaft, so tagebuchartig verspielt und verrätselt zu sein, wie das im jungen deutschen Kino derzeit viel zu selten vorkommt. Geschildert wird, wie zwei Liebende einander verlieren.
Die Liebenden: zwei junge Männer Anfang zwanzig, Johann (Sebastian Schlecht) und Robin (Eric Golub). Sie sind seit zwei Monaten zusammen, unternehmen einen Ausflug in die idyllische Wälder- und Seenlandschaft Brandenburgs. Sie betrachten die Wolken und umarmen sich, studieren die Landkarte, wollen sich ziellos treiben lassen. Sie verlaufen sich im Wald. Der Wald: verwunschenes Märchenmotiv, Labyrinth der Selbstsuche, Ort des Aufeinander-zurückgeworfen-Seins.
Regisseur Jan Krüger, Absolvent der Kunsthochschule für Medien Köln, spielt in seinem zweiten Spielfilm mit Motiven von Parabel und Märchen. Von Anfang an liegt ein rätselhafter Schatten über dem Paar. Einerseits innige Umarmungen und leidenschaftliche Küsse, andererseits Streit, Spannungen Rangeleien, Augenblicke, in denen auch der Sex zum Machtspiel wird. Sie gelangen zu einem Bauernhof, der vom hübschen 16jährigen Henri (Denis Alevi) und dessen Mutter Grit (Iris Minich) bewohnt wird. Sie finden freundliche Aufnahme, aber zwischen beiden verschärft sich der Kontrast von erotischer Intensität und Entfremdung. Johann isst giftige Beeren, verfällt in Fieber und Halluzinationen, und die Schlange der Eifersucht verstört die Gefühle nachhaltig.
Auch wenn manche Dialogszenen etwas unbeholfen improvisiert erscheinen, überzeugt Krügers Tagebuchstil doch eindrücklich. Er lässt alltägliche Szenen übergehen in traumartige Bilder, formt kontemplative Miniaturen, mischt Prosa und Poesie, und erzählt dabei die traurigste Liebesgeschichte: dass sich das, was die erotische Korrespondenz verheißt, in der Beziehung einfach nicht erfüllen mag.
RAINER GANSERA
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filmdienst fd12/2009, Rückenwind
Zwei Männer Anfang 20 brechen auf. Zunächst per Bahn, dann auf Fahrrädern, im Gepäck ein winziges Zelt. Es fallen nicht viele Worte, dafür gibt es umso mehr Blicke und zaghafte Berührungen. Sie tasten die Spannung ab, die sich allmählich aufbaut, das Auf und Ab der Gefühle, die Unsicherheit und das Begehren. Seit zwei Monaten sind sie ein Paar. Vor ihnen liegen die Wälder und Seen Brandenburgs, ein paar Begegnungen und immer wieder Sex im Grünen. Die instrumentale Musik der deutschen Band Tarwater assistiert ihnen bei ihren erotischen Pfadfinder-Spielen, schraffiert mit filigranen Klangtupfern die wechselnden Stimmungen, und mitunter erklingt auch schon mal mitten auf einer unbenutzten Autobahn eine betörende Arie von Händel.
Es gibt viele Gründe, in diese menschenleere, von zerfallender Architektur strukturierte Wildnis aufzubrechen, zumal als Stadtkind mit westdeutscher Sozialisation. Man kann dort für kurze Zeit den Zwängen des Erwachsenwerdens ausweichen, den vielen beunruhigenden Fragen an das Leben oder schlicht die eigene, noch unverfälschte Gefühlswelt ausloten.
Jan Krüger interessiert sich aber nicht für Psychologie. Er interessiert sich für die vielen Aggregatzustände der Liebe, für Landschaften und für Bewegung, und die führen immer hinein in die raue Unschuld des Moments, in die Trauer darüber, das Glück nicht festhalten zu können. Bevor die schmerzhafte „education sentimentale“ in einer Rückblende beginnen kann, sitzt der weichere, sensiblere der beiden Männer in der Psychiatrie und erzählt mit emotionsloser Stimme aus dem Off die Parabel vom Hasen, der einem Fuchs die Freundschaft anbietet. Im zweiten Teil der Rahmenhandlung wird die Stimme nicht anders klingen, nur klarer in der Einsicht der eigenen Unzulänglichkeiten. Die so festgezurrte Liebesgeschichte ist die natürliche Wahl für einen nüchternen Romantiker wie Jan Krüger, und das spürt man in jedem Augenblick in diesem entwaffnend ehrlichen Film. Wie schon seine thematisch ähnlich an Dreiecksbeziehungen orientierten vier Kurzfilme und der erste Langfilm „Unterwegs“ (fd 36556) – auch ein mit minimalem Budget gestemmtes Road Movie mit Hang zur Naturverlorenheit – , ist er manchmal grausam, manchmal unbelehrbar naiv, immer von überwältigender Schönheit und fast asketischer Penetranz, aber vor allem von so großer Furchtlosigkeit vor Improvisation, dass man ihm alles verzeiht.
Als die Fahrräder abhanden kommen und der Hunger die Freude am Betrachten von vorbeiziehenden Wolkenbildern stört, bietet sich ein Bauernhof als Zuflucht an. Die Besitzer scheinen unterwegs, und das streunende Duo durchsucht das aus der Zeit gefallene Terrain nach etwas Essbaren. Dann taucht ein hübscher 16-Jähriger mit einem Gewehr auf und sperrt die Eindringlinge ein, bis seine Mutter, ein klassischer Fall Berliner Lebenskünstlerin mit Aussteigerambitionen, vom Einkaufen zurückkommt. Die zeigt sich in Anbetracht fehlender Gesellschaft unerwartet interessiert und lädt die Fremden zum Verweilen ein. In der Konfrontation des Pärchens mit anderen Menschen bekommt die weltvergessene Sommerhymne noch einmal einen unerwarteten Schwung. Vor allem die Bilder von Krügers Lieblingskamerafrau Bernadette Paassen laufen zur Höchstform auf. Während sich die Jungs ihre Kindheit zurückerobern und die Zeit mit Ziegenfüttern, Duschen im Freien und Badefreuden am See vertreiben, ist sie berauscht von Wasser, Erde und Schweiß. Ob sanft schwebende Fischnetze oder das Treiben von Ameisen zwischen Ästen und Blättern: ihr Blick seziert die selbstgenügsame Gleichgültigkeit der Natur so ungläubig, suchend und doch ohne zu schwelgen, dass man die Sehnsucht nach dem mystisch verklärten Universum von Tarkowskij zu spüren meint. Dann wird der sanft dahinschwebende Film zum Märchen, und es verwundert nicht mehr, dass der Griff nach giftigen Beeren das Ende des magischen Aufenthalts im Paradies einläutet. „Rückenwind“ ist Krügers bisher reifster Film, ohne den Charme des Unfertigen zu verlieren. Er komprimiert all die für ihn typischen Motive und entwickelt sie weiter in Richtung einer Abfolge disparater, oft dem Zufall abgetrotzter Szenen, die, gepaart mit der immer abstrakter werdenden Erzählweise, für Dauerspannung sorgt.
Alexandra Wach